BLOG 12 / 2011: Erst denken – dann handeln!
Als Herr W. seine Stelle als Leiter einer internen Serviceabteilung bei dem süddeutschen Autobauer antrat, war sein Vorgänger gerade aus der Tür heraus. Mehr als 30 Jahre hatte dieser für den Konzern gearbeitet und war mit großem Tamtam in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet worden. Mit Spannung wurde der Nachfolger erwartet. Und nach der freundlichen Begrüßung durch den Bereichsvorstand, der Herrn W. als „Mann der Tat“ vorstellte, begann der Arbeitsalltag.
Die heftigen Mißstimmungen zwischen den Mitarbeitern und Herrn W. ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Der Vorgänger hatte seinen Mitarbeitern weitgehend freie Hand gelassen: Sie konnten wählen, ob sie selbst eine Entscheidung treffen und den jeweiligen Arbeitsprozess eigenständig abschließen oder den Chef konsultieren wollen. Das war zwar ursprünglich so nicht geplant und auch in den Arbeitsverträgen anders geregelt. Aber der Vorgänger von Herrn W. machte es zur gängigen Praxis. Herr W. allerdings nicht. Verwundert reagierte er auf die, wie er meinte, „laxe Führung“ und wies seine Mitarbeiter an, ihm jeden einzelnen Vorgang vorzulegen. Diese reagierten ihrerseits mit Unverständnis bis hin zur persönlichen Ablehnung. Zwar machten die Mitarbeiter zuvor eher selten von der Möglichkeit zur vollkommen selbständigen Entscheidung Gebrauch. Ihnen diese Möglichkeit „wegzunehmen“ – selbst wenn sie bislang nur selten genutzt wurde – erzürnte die Mitarbeiter über alle Maßen. Der Ton wurde aggressiver, die Reaktionen gegenüber dem Chef feindseliger. Plötzlich war es ihnen ungeheuer wichtig, selbständig entscheiden und agieren zu können.
Was wir hier erleben, sind die typischen Folgen der sogenannten Reaktanz[1]. Sie wird dann erlebt, wenn der Möglichkeits- oder Handlungsraum des Einzelnen eingeschränkt wird. Selbst Dinge, die vorher gar nicht als wichtig oder attraktiv empfunden wurden, werden durch ihren (erzwungenen) Verzicht erheblich aufgewertet. Man will sie dann zurückhaben bzw. weiterhin nutzen können. Je nach Relevanz werden erhebliche Anstrengungen unternommen, den alten Zustand wieder herzustellen. Das Ganze wird auch schon einmal durch energische emotionale Reaktionen begleitet, was einer schnellen Einigung nicht förderlich ist.
Als die zahlreichen Interventionen der Mitarbeiter bei Herrn W. nicht fruchteten und auch der herbeigerufene Betriebsrat nicht weiterkam, war guter Rat teuer. Die Lösung ergab sich schließlich durch einen Kompromiss, den der Bereichsvorstand anregte: Die Mitarbeiter können weiterhin selbst entscheiden, ob sie den Vorgang alleine abschließen oder Herrn W. konsultieren (= Rückgewinnung des Möglichkeitsraums); Herr W. seinerseits hat das Recht, sich Vorgänge stichprobenartig präsentieren zu lassen (und ggf. korrigierend einzugreifen), um die Qualität sicherzustellen (= Qualitätsargument von Herrn W.).
Was hätte Herr W. denn zu Beginn tun können? „Par ordre du mufti“ ist jedenfalls der falsche Weg. Neuerungen, die Bestehendes – vor allem Tradiertes – verändern, können wirkungsvoll nur zusammen mit den Mitarbeitern angegangen und umgesetzt werden. Dabei gilt es zunächst, die gewohnte Arbeitsweise zu würdigen. Man hat ja nicht alles falsch gemacht. Wo der Schuh drückt, wissen die Mitarbeiter meist selbst am besten. Und wenn der Chef eine neue, ihm aus eigener Erfahrung bekannte Lösung vorstellen und Hilfestellung geben kann, dann ist das umso besser. Aber das ist ein sich entwickelnder Prozess und sollte nicht nach dem Motto: „Hoppla, jetzt komm‘ ich und alles läuft besser, weil anders!“ stattfinden.
Das hatte Herr W. aber nicht verstanden. Er hat den so wichtigen ersten Eindruck gründlich vermasselt. Die Einstellung der Mitarbeiter in Bezug auf seine Person als Führungskraft ist jetzt negativ besetzt. Und die Mitarbeiter werden einstellungskonforme Informationen suchen, um ihr erstes (ablehnendes) Urteil zu festigen. Ergo bedarf es erheblicher Anstrengungen durch Herrn W., dies zu korrigieren. Und auch ein Bereichsvorstand findet es unpassend, gleich zu Beginn der Zusammenarbeit zu einem „Feuerwehreinsatz“ gerufen zu werden.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass letztendlich die Wahrnehmung der Betroffenen – also der Mitarbeiter – entscheidend ist. Wer zufriedene Mitarbeiter wünscht, sollte feinfühliger mit ihren Gewohnheiten umgehen.
[1] Brehm, J.W. (1966). Theory of psychological reactance. New York. ODER http://de.wikipedia.org/wiki/Reaktanz_%28Psychologie%29