BLOG 10 / 2013: Erster Akt, II. Szene: Auftritt des Helden
Vor einiger Zeit in der Sprechstunde: Michael J., leitender Personalentwickler bei einer deutschen Großbank saß mir gegenüber und klagte sein Leid:
„Ich weiß nicht, was ich noch mit ihm [Herrn F., Bereichsleiter Debt Capital Markets; Anm. d. Verf.] machen soll! Er will einfach nicht! Als ich letzte Woche bei ihm war, da meinte er: ‚Verschonen Sie mich mit dieser Psycho-Kacke! Ich kriege das alleine hin.‘ Und jetzt?“
Zudem war auch die Intervention von Herrn J. beim zuständigen Vorstand erfolglos geblieben. „Diese Investmentbanker ticken alle gleich und halten darüber hinaus uns gegenüber zusammen wie Pech und Schwefel.“ meinte er.
In einer Welt, die gleichsam nur mit Rendite und Risiko funktioniert, erscheinen psychologische Führungsansätze auf den ersten Blick deplatziert. Sich hier als Berater mit Macht Gehör verschaffen zu wollen, ist eher kontraproduktiv. Dabei wäre eine entsprechende Unterstützung bestimmt hilfreich gewesen, denn bei der Restrukturierung des DCM-Bereichs von Herrn F. sollten Köpfe rollen und die Maßnahme könnte zu einer erheblichen Verunsicherung der übrigen Mitarbeiter führen. Vom deutlichen Abfall der intrinsischen Motivation ganz zu schweigen.
Nach einer engagierten Diskussion mehrerer Alternativvorschläge und deren Ablehnung durch Herrn J. dachte ich schließlich. ‚Lass den F. doch machen. Die Quittung bekommt er, wenn die guten Leute gehen, das Ergebnis in den Keller geht oder spätestens bei der nächsten Mitarbeiterbefragung.‘
Doch ich sollte mich irren. Nichts davon geschah: Die guten Leute blieben (obwohl Herr J. meinte, dass die Headhunter um den DCM-Bereich kreisten wie Geier über einem Kadaver). Das Geschäftsergebnis entsprach der neuen, fokussierten Strategie und dem Budgeting. Und selbst in der folgenden Mitarbeiterbefragung war das Bereichsergebnis sehr gut und nicht schlechter als im Vorjahr.
Was da geschehen war, konnte ich erst verstehen, als ich neulich Herrn F. bei einer internen Bankveranstaltung persönlich kennenlernte, wo er einen kurzen, aber emotionalen Vortrag über den erfolgreichen Veränderungsprozess hielt. F. ist ein hoch gewachsener Mann, bestens gekleidet, charmant, schnell im Kopf, der präzise formuliert, beim Gehen zwar einen Stock benutzten muss, aber etwas besitzt, wovon ich zuvor nichts ahnte: Charisma, und zwar in einer hohen Dosierung. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war des Rätsels Lösung. Mit dieser kraftvollen Ausstrahlung gelingt es freilich, die Mitarbeiter auch in sehr schwierigen Situationen effektiv zu führen. Er brauchte keine neue Vision für die Zeit nach der Restrukturierung – er hatte bereits eine, die er quasi selbst verkörperte. Ihm folgen die Mitarbeiter, weil die Zukunft, für die er steht, weitaus attraktiver ist als die Gegenwart.
Herr J. hatte mir freilich nichts davon erzählt. Vielleicht, weil es ihm unwichtig erschien oder vielleicht, weil Charisma ein Beziehungsphänomen ist.[1] Es wirkt nicht bei jedem. Entgegen der vorherrschenden Meinung, Charisma sei ein Gottes- oder Gnadengeschenk – man hat es oder man hat es nicht[2] -, lässt sich Charisma gezielt entwickeln. Da es keine Eigenschaft, sondern eben ein Beziehungsphänomen ist, ist die Zuschreibung von Charisma abhängig von der Situation und der Interaktion von Menschen. In Herrn F. fanden seine entwicklungsorientierten Investmentbanker, von deren Job wir ja wissen, dass er der beste Job der Welt ist,[3] den Helden, der die äußerst schwierige Veränderungsaufgabe erfolgreich meistern wird. Dieser Typ von Charismatiker hat es hier einfacher, weil die Investmentbanker selbst eben sehr leistungsfähig und leistungsbereit sind. Ungleich schwerer wäre es im Change-Prozess für Herr F. geworden, wenn er vom Typus her ein „Missionar“ oder ein „Patriarch“ wäre oder statt einer charismatischen eine funktionale Führungspersönlichkeit. Dann wäre er Chef qua Amt. Dann hätte er viel mehr Zeit und Inhalte in den Veränderungsprozess investieren müssen. Und dann hätten wir auch mit unserem psychologischen Ansatz[4] punkten können.
Übrigens, wenn bei der vorletzten Mitarbeiterbefragung der Bank der MLQ[5] mitgelaufen wäre, dann hätten wir uns weniger Gedanken machen müssen. Denn dann hätten wir um das Charisma von Herrn F. gewusst und Herr J. wäre nicht so frustriert gewesen. Na ja, beim nächsten Mal wird alles anders.
[1] Vgl. dazu Paschen, M. & Dihsmaier, E. (2011). Psychologie der Menschenführung.
[2] Zu dieser mystifizierenden Sicht auf Charisma, das nur wenigen Ausersehenen gegeben sei, hat gerade auch Max Weber (1922, Wirtschaft und Gesellschaft) beigetragen.
[3] Siehe Blog 05/2012: Investmentbanker – der beste Job der Welt!
[4] Gemeint ist hier die Transformationale Führung, siehe www.transformationale-fuehrung.de
[5] Multifactor Leadership Questionnaire – etabliertes Befragungsinstrument zur Messung des Führungsverhaltens, insbesondere transformationale und transaktionale Führung.