BLOG 05 / 2013: Nachthimmel über Belgrad
Meine einstellungsprägende Erfahrung mit Uli Hoeneß machte ich am 20.06.1976. Zuvor war er mir immer mal wieder aufgefallen, wenn er effektvoll Tore im Alleingang erzielte, was mir damals sehr imponierte. An diesem Abend – ich war zehn – saß ich mit meiner Familie vor dem Fernseher und verfolgte gebannt das Euromeisterschaftsendspiel gegen die CSSR. Schließlich stand es 2:2 nach Verlängerung und das Elfmeterschießen nahm seinen Lauf. Hoeneß legte sich den Ball zurecht, lief kurz an und drosch das Leder mit Wucht in den Nachthimmel von Belgrad. Europameister wurde die Tschechoslowakei. Ich war fassungslos. Wie konnte das passieren? Wir waren doch die Weltmeister! Hoeneß hatte einfach zu viel riskiert. Seitdem muss ich immer an diese Szene denken, wenn ich ihn live im Fernsehen oder – wie derzeit häufiger – in Zeitungen oder dem Internet erlebe.
Das mit dem wahrgenommenen Risiko ist auch wirklich gemein und schlägt uns in vielen Situationen das bekannte „Schnippchen“. Das Tückische ist, dass sich unsere Wahrnehmung vom Risiko mit der Zeit ändert. Mit anhaltendem Erfolg bei riskanten Unternehmungen (sei es bei Aktiengeschäften oder beim Sport) wächst das Gefühl in uns, „Herr der Lage“ zu sein. Die intermittierende Verstärkung (= Erfolge und Misserfolge wechseln sich ab) lösen eine Extinktionsresistenz aus, d.h. „angefixt“ probieren wir immer wieder, zum Erfolg zu kommen, selbst wenn es dauert. Und wir attribuieren den Erfolg gerne auf die eigenen Fähigkeiten (internale Kontrolle)[1]; verdrängen dabei, dass Ergebnisse nicht nur von uns abhängen, sondern von vielen Faktoren, die wir gar nicht beeinflussen können (Misserfolge können wir im Nachhinein übrigens immer erklären / umdeuten). Wir unterliegen also nur einer Kontrollillusion; das wahrgenommene Risiko des Scheiterns scheint im Zeitablauf immer kleiner zu werden – der Sinn für eine realistische Risikoeinschätzung schwindet. Dies gilt übrigens auch für Steuerdelikte. Wer unentdeckt bleibt, wenn er mehrmals Geld ins Ausland schafft, der glaubt auch, dass das Risiko erwischt zu werden geringer ist als ursprünglich angenommen.
Man könnte zudem von einer fehlgehenden Generalisierung sprechen, wenn Personen, denen in der Vergangenheit alles gelang, was sie unternahmen, meinen, sie können allgemein nicht irren („Master of the Universe“ – maßlose Selbstüberschätzung; auch bei manchen Führungskräften anzutreffen). Ob sich das genauso auch im Fall Hoeneß abgespielt hat, bleibt diffus. Aber es deutet Einiges darauf hin.
Auch die Diskrepanz zwischen der Rolle des Saubermanns und der gleichzeitigen Steuerhinterziehung kann sozialpsychologisch erklärt werden: Wir passen unsere Leistungen gegenüber anderen (der Allgemeinheit) an, wenn wir gewahr werden, dass ein subjektives Missverhältnis zwischen Input und Output besteht. Wer viel Steuern zahlt, gleichzeitig für wohltätige Zwecke spendet und sich schließlich um der Deutschen liebsten Sport verdient gemacht hat, der hat schon sehr viel an Input geleistet. Und was bekommt er dafür zurück? Reichen ein bisschen Luxus, Ruhm und Ansehen dafür aus? Adams formulierte dazu die Regel der distributiven Gerechtigkeit (Equity), nach der das Verhältnis von Output zu Input zwischen den Personen A und B verglichen wird[2]:
OA/IA = OB/IB wird als gerecht wahrgenommen, wohingegen OA/IA ≠ OB/IB als ungerecht gilt.
Als Output O sind sowohl materielle Dinge wie das Einkommen, das Vermögen aber auch immaterielle Dinge wie Ruf und Anerkennung zu betrachten. Der Input I ist bspw. die entlohnte Arbeitsleistung oder das gesellschaftliche Engagement. Die empfundene Ungerechtigkeit löst einen Spannungszustand aus mit dem Ziel, den Ausgleich wieder herzustellen. Dies gelingt durch Änderungen von In- oder Output oder durch den Wechsel der Vergleichsperson. Vielleicht war es Hoeneß ja nicht möglich, eine passendere Vergleichsperson zu identifizieren? Also blieb ihm nur, In- oder Output zu verändern. Er hat sich für den Output entschieden und ihn mittels Steuervermeidung erhöht.
Empirische Untersuchungen zeigen zudem, dass die Wahrnehmung von ungerechter Verteilung (Inequity) einen vergleichsweisen hohen Einfluss auf Steuerhinterziehung hat. Der Einfluss der möglichen Strafhöhe bei Entdeckung ist jedoch gering.[3]
Schließlich ist auch der Selbstwert von Belang. Dieser kann durch das strafbare Verhalten einer Steuerhinterziehung spezifisch gemindert werden: „Ich bin ein steuerehrlicher Bürger“ gilt dann nicht mehr, was i.d.R. selbstwertreduzierend wirkt, weil es gegen eine inzwischen bedeutsame Norm verstößt. Für den Gesamtselbstwert einer Person kann jedoch ein Ausgleich über eine weitere Komponente des Selbstaspekts gefunden werden. Durch „Ich engagiere mich im sozialen Bereich und spende großzügig“ wird eine andere selbstwertrelevante Komponente aufgewertet, was den Gesamtselbstwert wieder auf ein akzeptables Niveau hebt.[4] Beide Aspekte finden wir im Verhalten von Hoeneß. Dies ermöglichte ihm auch, in den Medien als „Saubermann“ aufzutreten; vermeintlich ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
Internale Kontrolle, Equity oder Kompensation von Selbstwertaspekten – was bei Hoeneß nun stärker zutrifft, lässt sich aus der Ferne nur schwer beurteilen. Wahrscheinlich ist es – wie so oft in der Sozialpsychologie – eine Mixtur von Einflüssen.
Mein persönliches Bild von Hoeneß ist jedenfalls um eine Ergänzung reicher: Der Nachthimmel über Belgrad ist ein Stück schwärzer geworden.
[1] Vgl. Rotter, J.B. (1966). Generalized expectations for internal versus external control of reinforcement. In: Psychological Monographs. Vol. 80.
[2] Adams, J.S. (1965). Inequity in social exchange. In: Berkowitz, L. (Hrsg.): Advances in Experimental Social Psychology. New York. Vol. 1, S. 267-299.
[3] Spicer, M.N. & Becker, L.A. (1980). Fiscal inequity and tax evasion: An experimental approach. In: National Tax Journal, Vol. 33, S. 172-175.
[4] Steele, C.M (1988). The psychology of self-affirmation: Subtraining in the integrity of the self. In: Berkowitz, L. (Hrsg.): Advances in Experimental Social Psychology. San Diego. Vol. 21, S. 261-302.