BLOG 03 / 2013: „Kleider machen Leute“
Als Herzog das Büro seines Chefs betrat, überkam ihn wieder dieses schaurige Gefühl, das er jedes Mal erlebte, wenn er ihn sah. Dabei sollte es eigentlich das letzte Mal sein – ein Abschlussgespräch sozusagen. Kein Grund für Panik oder Degout. Nächste Woche würde er bei seinem neuen Arbeitgeber einen Abteilungsleiterposten im Vertragsbereich übernehmen. Ähnlich der Aufgabe seines Noch-Chefs Radlow. Aber er wollte es ganz anders machen. Von Anfang an.
Radlow bot den üblichen Anblick: Wirres Resthaar, abgewetzte Cordhose, schmutzige Schuhe und als Krönung: der unvermeidliche Schlabberpulli (von Mutti oder Mausi). Radlow jedoch begrüßte ihn freundlich, und es entwickelte sich ein engagiertes Gespräch über Leistungen und Karrierewege. Dass Radlow fachlich gut und menschlich in Ordnung war, wussten alle. Sein Auftritt entsprach allerdings nicht dem einer Führungskraft. Es fehlte ihm jegliche Ausstrahlung und Autorität. Er stritt sich häufig mit seinen Mitarbeitern, die sich von ihm nur ungern etwas sagen ließen. Zwar dominierte er aufgrund seiner Kompetenz und disziplinarischen Stellung. Er erschien seinen Mitarbeitern jedoch nicht als „echte“ oder „richtige“ Führungskraft. Niemand, dem man folgen wollte oder dessen Nähe man suchte. Es fehlte etwas. Während andere Abteilungsleiter auch vom äußeren Erscheinungsbild her „in Führung gingen“, erschien Radlow immer wie eine Mischung aus dreißigstem Semester und einem im Keller vergessenen Archivar. Für Herzog war er das Anti-Bild eines Vorgesetzten.
Und Herzog wollte ab jetzt aus dem Vollen schöpfen: Modisch geschnittene Anzüge aus italienischem Tuch, taillierte Hemden mit modernen Krawatten, rahmengenähte englische Schuhe und eine wertvolle Uhr aus der Schweiz. So wollte er sich seinen neuen Mitarbeitern präsentieren. Alles sollte geschmackvoll aussehen und seriös wirken. Ein Chef zum ernst nehmen.
Als sich Herzog letzte Woche die Grundausstattung seiner neuen Garderobe zulegte, meinte seine Frau Corinna, dass es doch eher auf die inneren Werte und das gezeigte Verhalten gegenüber den Mitarbeitern ankäme. ‚Na toll‘, dachte sich Herzog, ‚klingt wie meine alte Deutschlehrerin. Diese Gewitterziege, bei der `68 die Zeit stehenblieb.‘ Aber dann dachte er doch noch einmal über ihre Worte nach.
Es war klar, dass ein Vorgesetzter zur wirksamen Mitarbeiterführung auch eine Vorbildfunktion einnehmen muss. Im Rahmen dieses Vorbildhandelns gehört die Ausstrahlung mit dazu.[1] Dies erreicht man durch stringente Kommunikation seiner Vision, Vertrauen und Zutrauen. Werte müssen dargestellt und vorgelebt werden. Und die richtige Symbolik verleiht der Führungskraft, neben der Belohnungsmacht, die Ausstrahlung von Führung, der die Mitarbeiter folgen wollen. An Charisma wollte Herzog dabei gar nicht denken, obwohl er wusste, dass es ein erlernbares Beziehungsphänomen ist, das mit dem Heldenbegriff von Max Weber eine unzulässige Überhöhung erfahren hatte.
Im Außendienst wurde über Kleidung und Auftreten gar nicht groß diskutiert. Da war klar, dass es für den gelungenen Auftritt beim Kunden wichtig war, erfolgreich, ernsthaft und vertrauensvoll zu erscheinen. Warum galt das Gleiche nicht auch im Innendienst? Weil eine Innendienst-Führungskraft durch ihr langfristiges Verhalten wirkt, während der Verkäufer nur kurzfristig den Schein wahren muss? Aber was wäre, wenn wir keine rational entscheidenden Wirtschaftssubjekte à la homo oeconomicus wären, sondern Menschen, die sich auch irrational oder nur rationalisierend verhalten? Dann würden wir von den Äußerlichkeiten auf die Persönlichkeit schließen. Dann würden wir aus der Symbolik die Werte ableiten. Dann würde unser erster Eindruck uns nach Informationen suchen lassen, die diesen bestätigen – der sog. „selective exposure“-Effekt“ der kognitiven Dissonanz[2], der eben auch für vorläufige Entscheidungen oder Einstellungen gilt. Und dann würden wir weitere Informationen im Lichte unserer ersten Einstellung (dissonanzvermeidend) interpretieren. Somit muss sich eine Führungskraft schon ziemlich anstrengen, um den ersten guten oder schlechten Eindruck zu revidieren.
‚Wenn‘, so dachte sich Herzog, ‚ich aber eine gute Führungskraft sein will, dann muss ich den ersten guten (äußerlichen) Eindruck durch mein Handeln langfristig bestätigen und sichern. Und wenn Kleidung symbolhaft wirkt, dann kann ich darüber hinaus den „Pygmalion-Effekt“ nutzen. Denn wenn ich davon ausgehe, dass ich durch mein Auftreten eine positive Ausstrahlung erzeuge, dann werden die Mitarbeiter mich zunächst entsprechend wahrnehmen und mich passend behandeln. Dazu muss ich wahrscheinlich noch gar nichts Führungsrelevantes gesagt haben. Da auf mich ausstrahlungskompatibel reagiert wird, werde ich mein eigenes Folgeverhalten (mehr oder weniger bewusst) der Mitarbeiterreaktion anpassen. Also wirkt Symbolik auf Mitarbeiterwahrnehmung, diese induziert das Mitarbeiterverhalten, welches schließlich mein eigenes Verhalten beeinflusst. Der Nutzung des Symbols folgt demnach ein symbolkompatibles Verhalten aller Akteure.‘
Nach diesen Überlegungen war er es zufrieden und gönnte sich zum Abschluss seiner Einkaufstour beim renommierten Juwelier Gottfried Keller noch eine schöne Rolesor-Datejust mit Jubilé-Armband.
[1] Vgl. den Überblicksartikel zur Transformationalen Führung. Felfe, J. (2006) Transformationale und charismatische Führung – Stand der Forschung und aktuelle Entwicklungen. In: Zeitschrift für Personalpsychologie, 5 (4), S. 163-176. Oder: http://de.wikipedia.org/wiki/Transformationale_F%C3%BChrung
[2] Für eine Übersicht zur Entstehung und Empirie der kognitiven Dissonanz (ursprünglich von Leon Festinger von 1957), siehe Frey, D. & Gaska, A. (1993). Die Theorie der kognitiven Dissonanz. In: Frey, D. & Irle, M. (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. Bd. 1 Kognitive Theorien. 2. vollst. überarbeitete und erweiterte Auflage. S. 275-324. Bern et al.