BLOG 11 / 2012: Vom Tode eines Handlungsreisenden
Die Sache war irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Diesen Geringleister Lohmann hätte man schon vor einem halben Jahr rausschmeißen sollen. Aber der Chef-Chef wollte nichts davon hören. „Da hätten Sie früher durchgreifen müssen!“ meinte er zu Hansen, zu dessen Team Lohmann gehörte. Also wurde zunächst einmal ein Verkaufstraining zwecks Bewährung angeordnet. Und Hansen hatte den Auftrag, es Lohmann mitzuteilen und mögliche Konsequenzen aufzuzeigen, wozu er nicht die mindeste Lust verspürte.
Als Hansen vor einem knappen Jahr die Verantwortung für das neue Verkaufsgebiet erhielt, hatte der die ganze Vertriebsmannschaft mit übernommen. Es war eigentlich auch gar keine richtige Mannschaft, sondern ein zusammengewürfelter Haufen von Leuten, die die anderen Vertriebsleiter entbehren konnten. Kein idealer Start, aber immerhin kannten Sie das Unternehmen und das Produktportfolio gut genug.
Lohmann war ihm damals schon rein äußerlich etwas schwächlich vorgekommen. Dunkle Augenringe kombiniert mit hängenden Schultern und einem schleppenden Gang. Aber er wollte ihm eine Chance geben, schließlich brauchte er jede Unterstützung, die er kriegen konnte. Doch die ersten Zahlen verhießen nichts Gutes. Hansen sprach Lohmann auch darauf an, worauf dieser ihm von unangenehmen Kunden und schweren persönlichen Problemen erzählte. Er ließ sich von Lohmann regelrecht einwickeln, was ihn jetzt besonders ärgerte. Selbst Lohmanns Kollege Burger, der Hansen auf die in letzter Zeit abweisende und irgendwie bedrückte Erscheinung von Lohmann hinwies, konnte ihn nicht beschwichtigen.
Aber es half nichts. Hansen bestellte Lohmann in die Zentrale ein und machte seinen Standpunkt deutlich: Die schlechteste Performance im Vertriebsgebiet, Verkaufstraining jetzt, dann bessere Ergebnisse oder Entlassung. Lohmann wirkte etwas überrascht und fing wieder mit der alten Leier an. Diesmal war Hansen darauf vorbereitet und entgegnete, dass das Training ihm bei den schwierigen Kunden weiterhelfen würde und die persönlichen Probleme seine und nicht die von Hansen sind.
„Mission completed“ dachte sich Hansen, aber da hatte er die Rechnung ohne Lohmann gemacht. Der fühlte sich schwer getroffen. Hansen hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, wie es um ihn steht, was er von ihm hält und was seine letzte Chance ist. Es klang jedoch weniger nach Hilfe als nach einem Abschuss auf Raten. Hätte ihm das sein alter Chef so gesagt, es wäre es ihm fast egal gewesen. Aber Hansen war im Grunde ein sympathischer Kerl, der auch nur seine Ziele erfüllen musste und dafür hart arbeitete. Lohmann hatte gleich zu Beginn den Eindruck, dass da eine Vertrauensbasis besteht, und es mit ihm gut klappen könnte. Daher hatte er ihm auch von den Problemen mit seiner Frau erzählt und dass ihm jeder Tag einfach bloß noch grau erschien. Er war inzwischen von zu Hause ausgezogen und sah seine kleine Tochter nur noch alle zwei Wochen. Und nun das: Hansen sprach von kompletter Unfähigkeit und mangelndem Engagement. Gerade als Hansen eine ganze Litanei von Verfehlungen aufzählte, platzte dessen Sekretärin herein und musste sich alles anhören, bevor sie ihre Frage stellen konnte. Was für eine Blamage. Sein Selbstwert war auf einem Tiefpunkt.
Die Diskrepanzen traten bei Lohmann vor allem zwischen den Selbstbildarten „tatsächlich/selbst“ (wie man sich selbst sieht – erfolglos) und „tatsächlich/fremd“ (wie man glaubt, von anderen wahrgenommen zu werden – erfolglos und unfähig) einerseits und „ideal/selbst“ (wie man selbst sein möchte – erfolgreich und glücklich familiär gebunden) sowie „gefordert/selbst“ (wie man nach akzeptierten sozialen und moralischen Normen sein möchte – erfolgreich) andererseits.[1] Diese Diskrepanzen, insbesondere zwischen Selbstbild (tatsächlich) und Selbststandards (ideal und gefordert), versucht das Individuum aktiv zu reduzieren. Denn sie verursachen Gefühle wie Unzufriedenheit, Traurigkeit (Depression), Angst und Schuld sowie einen verminderten Selbstwert. Mit steigendem Ausmaß der Diskrepanzen steigt auch das Ausmaß der Gefühle. Können die Diskrepanzen nicht reduziert werden, bleiben auch die negativen Gefühle bestehen. Je größer die Zugänglichkeit einer Selbstdiskrepanz ist (die bloße Erwähnung reicht), desto mehr leidet der Betroffene darunter. Dies gilt umso mehr, wenn die Erwähnung von einer Person kommt, die man selbst positiv einschätzt und hoch bewertet.
Lohmann war ratlos. Er suchte etwas, um wieder auf die Beine zu kommen. Irgendetwas. Ein Erfolgserlebnis musste her, das ihn wieder an sich selbst glauben ließ. Aber was sollte das sein? Ein Großauftrag war nicht in Sicht. Neukunden aufzutun war bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage eine langwierige Sache. Und eine Versöhnung mit Karin erschien unmöglich, außerdem hatte sie einen Neuen. Also aussichtslos.
Man fand Lohmann gut zwei Wochen später bei Rheinkilometer 791. Hansen war zunächst betroffen, erkannte im Nachhinein aber keine Möglichkeit, wie er dies hätte verhindern können. Sein Chef sah das übrigens anders. Er sprach von Fürsorgepflicht und Förderung des Wohlergehens der Mitarbeiter. Dazu gehört auch, den Selbstwert der Mitarbeiter im Blick zu haben und Warnsignale zu erkennen.
Was hätte Hansen machen können? Zunächst einmal hätte er im Gespräch mehr Empathie für Lohmann und seine Situation zeigen sollen. Die Bezichtigung der Unfähigkeit und die Blamage vor der Sekretärin hätte er unterlassen müssen. Zur individuellen Beachtung des Mitarbeiters im Sinne der Transformationalen Führung gehört auch, neben den Fähigkeiten und Kompetenzen die Bedürfnisse des Mitarbeiters zu erkennen und anzusprechen. Schließlich hätte er psychologische Hilfe (durch den Betriebspsychologen oder externe Kräfte) anbieten oder organisieren können. Hinweise auf deren Notwendigkeit gab es genug. Eine Führungskraft muss kein Psychologe sein, aber sie sollte erkennen können, wann ihre Mitarbeiter professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollten.